Mittwoch, Januar 03, 2007

we are the matched and numbered ones.

es ist großartig, wie sich das leben nimmt, was es braucht. aller planung und umsichtiger berechnung zum trotze. heute morgen, während meiner ersten haarwäsche im neuen jahr, wollte ich das blog-jahr noch damit beginnen, womit das letzte jahr eigentlich offiziell geendet hat: richtig, wiederholungstäter, musikblog.
aber das leben holt sich, was nötig ist, und was muss, das bleibt, und was herausmuss, das schreibt. und so lag ich auf der couch, um sieben uhr dreißig morgens, auf meinem bauch eine frühe katze und literatur in der hand. spanische gegenwartsliteratur. von roberto bolano. und plötzlich hatte ich bolano nicht nur in der hand, sondern überall an mir kleben, auf der zunge, an den händen, der ganze kopf war voll damit.
der 1953 geborene bolano galt als einer der hoffnungsvollsten autoren jener spanischsprachigen, literarischen gegenwart, wäre er nicht vor drei jahren an einer leberzirrhose verstorben. ich bin eher durch zufall und aus einem laikalen interesse an spanischer literatur zu ihm gekommen, meine neuerliche affäre mit ihm begann vor nicht ganz einer woche mit seiner letzten veröffentlichung, der phantastischen kurzgeschichtensammlung "der unerträgliche gaucho" (2006 erschienen bei kunstmann). in den dort enthaltenen sieben kurzgeschichten und essays entbrennt ein feuerwerk an allem, was bolano auszeichnet, wenn man den einschlägigen literaturforschern glauben möchte (und das will ich): da trifft magischer realismus auf poetischen rationalismus, manchmal wird an den worten und auch gerne an der eindeutigkeit gespart, aber immer mit kalkül, immer mit dem ziel, einen neuen, dem leser eigenen raum zu öffnen. ich muss an kafka denken, obwohl ich ihn nicht mag, und doch beherrscht bolano die sprachliche askese wie auch die exhibition des eigenen privaten genauso gut wie franze.
ein essay trägt den programmatischen titel "literatur+krankheit=krankheit", in dem er sich mit seinem eigenen, nahenden schicksal extrem offen auseinandersetzt.
eine andere kurzgeschichte, "der rattenpolizist", eine fabel aus dem reich der kanalratten, bildet einen allegorischen reigen auf das südamerika der jetztzeit. bolano, der ursprünglich aus chile stammt, hat ein gespaltenes verhältnis zu seiner heimat, hat sich immer als teil der linken gesehen, ist in späteren jahren nach spanien ausgewandert.
die meisten der hier versammeleten kurzgeschichten leben von einer kargheit, sind so unspektakulär, dass sie volle begeisterung erst nach lektüreende entfalten. gleich die erste geschichte des bandes, "jim", dauert nicht einmal zehn seiten und fängt den lesenden genauso schnell und packend, wie der todtraurige amerikaner jim, der plötzlich auf den straßen mexikos dem feuer eines feuerschluckers erliegt und seinen persönlichen geistern ins gesicht sieht.
der letzte essay des bandes, "der cthulhu-mythos", hat mich nach anfänglichem zögern am meisten beeindruckt. bolano liefert hier eigentlich einen bösen, beinahe zynischen und erstaunlich wütenden abriss über eben jene spanische gegenwartsliteratur, zu der er selbst zählt, und trifft damit das herz der gesamten literatur, das herz einer ganzen welt, egal welcher sprache:
"Um die spanischsprachige Gegenwartsliteratur steht es sehr gut! Ausgezeichnet! Bestens! Stünde es noch besser um sie, mir würde Angst und Bange. Aber immer mit der Ruhe. Es steht gut um sie, doch niemand muss einen Herzinfarkt befürchten. Nichts deutet auf größere Überraschungen hin. [...]
Lateinamerika war das Irrenhaus Europas, so wie die USA seine Fabrik waren. Die Fabrik ist inzwischen in den Händen der Vorarbeiter, und die Arbeitskräfte sind geflohene Verrückte. Seit über sechzig Jahren verbrennt das Irrenhaus in seinem eigenen Öl, seinem eigenen Fett. [...]
Heutzutage sind Schriftsteller Funktionäre, sind Schriftsteller skrupellos, gehen ins Fitnessstudio und lassen ihre kleinen und großen Leiden in Houston oder in der New Yorker Mayo Klinik behandeln. Vargas Llosas beste in Sachen Literatur erteilte Lektion war es, zu früher Morgenstunde joggen zu gehen. García Márquez' beste Lektion war es, den Papst in Havanna in Lackschnürstiefeln zu empfangen, García, nicht der Papst, der vermutlich Sandalen trug, während Castro Stiefel anhatte. [...]
Die Schriftsteller sind, worauf Pere Gimferrer ganz richtig hingewiesen hat, keine feinen jungen Herrn mehr, die auf gesellschaftliches Ansehen pfeiffen, und schon gar kein Haufen von Unangepassten, sondern Leute aus der Mittelschicht und dem Proletariat, die entschlossen sind, den Mount Everest der Anerkennung zu erklimmen, die nach Anerkennung gieren. Blonde und dunkelhaarige Söhne aus dem Madrider Provinzmilieu, Leute aus der unetern Mittelschicht, Leute, die hoffen, ihre letzten Tage in der oberen Mittelschicht zu verleben. Sie lehnen Anerkennung nicht ab. Sie suchen sie verzweifelt. Auf dem Weg dorthin kommen sie tüchtig ins Schwitzen. Bücher signieren, lächeln, in die Fremde reisen, lächeln, [...] niemals in die Hand beißen, die einen füttert, Buchmessen besuchen, [...] in den übelsten Situationen lächeln, [...] das Bevölkerungswachstum regulieren, immer brav Danke sagen. [...]
Gott segne Hernán Rivera Letelier, Gott segne seinen schnulzigen Stil, seine Gefühlsduselei, seine politisch korrekten Ansichten, seine ungeschickten Formfehler, denn ich habe dazu beigetragen. Gott segne die schwachsinnigen Nachkommen von García Márquez und die schwachsinnigen Nachkommen von Octavio Paz, denn ich habe diese Geburten zu verantworten. Gott segne Fidel Castros Konzentrationslager für Homosexuelle und die zwanzigtausend Vermissten in Argentinien und die erstaunte Visage Videlas und das greise Macholächeln Peróns, das über uns am Himmel schwebt, und die Kindermörder von Rio de Janeiro und das Spanisch, das Hugo Chávez spricht, das nach Scheiße riecht und Scheiße ist und von mir erschaffen wurde. [...]
Ohne Mama und Papa können wir nicht leben. Obwohl wir ahnen, dass es Mama und Papa waren, die uns hässlich, dumm und schlecht werden ließen, damit sie selbst vor kommenden Generationen noch besser dastehen. Für Mama und Papa war Sparen Überdauern, Werk und Pantheon bedeutender Persönlichkeiten, während für uns Sparen Erfolg, Geld, Anerkennung ist. Darum und nur darum geht es uns. Wir sind die Generation der Mittelschicht. [...]
Aber wir sind Nieten im Bett, und vermutlich werden wir wieder Mist bauen. Es sieht ganz so aus, als kämen wir aus dem Schlamassel nicht mehr heraus."